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Es ist kurz vor halb sieben an einem verregneten Montagmorgen im November, als ich an der verabredeten Bushaltestelle auf Uta warte. Sie ist pünktlich und deutet an, dass ich schnell einsteigen soll. Zügig sind wir unterwegs. Der Regen prasselt gegen die Fensterscheiben, ein Fahrradfahrer wird nassgespritzt. Uta gibt an, dass wir gut in der Zeit lägen. Sie hätte auf ihrer Tour bis Mittag fünf Kunden zu besuchen, bei denen sie je nach Arbeitsaufwand fünf bis dreißig Minuten bleiben würde. Kunden, Arbeitsaufwand, Tour. »Ja, so ist das nun mal. Es sind Kunden und keine Patienten. Und wir sind Angestellte einer Dienstleistungsfirma und keine Schwestern im Krankenhaus. Na ja, und der Arbeitsaufwand richtet sich nach den Modulen, die gebucht wurden. Also … « Uta berichtet über das Pflegesystem. Ich versuche, ihren hektischen Ausführungen zu folgen und bin überrascht, dass z. B. Haare kämmen nicht mit zum Ankleiden gehört und extra berechnet wird.
Wir parken in der Innenstadt mitten im Kreuzungsbereich. »Ich stelle mich immer hierhin«, sagt Uta. »Die Politessen sehen ja, dass ich vom Pflegedienst bin. Ich habe noch nie ein Knöllchen bekommen.« Sie schnappt sich ihre Mappe von der Rückbank und steigt aus dem Auto. Ich folge ihr zur ersten Wohnung.
Frieda S. öffnet uns die Tür. Ein dankbares Lächeln. »Frieda, ich habe heute viel zu tun«, lauten Utas erste Worte. Kein »Guten Morgen«, kein »Wie geht es Ihnen?«. Die Seniorin nickt ernüchtert, wendet sich ab und geht langsam Richtung Küche. Dort zieht sich Uta Handschuhe an und bereitet die Spritze vor. »Bei Frieda ist nicht so viel zu tun. Das bisschen Altersdiabetes. Nicht wahr, Frieda?« Die Frau antwortet nicht, setzt sich auf einen Küchenstuhl und hebt ihr Nachthemd hoch. »Später muss ich mehr machen. Das werden Sie dann sehen. Aber Sie sind ja nur heute Vormittag mit dabei. Manchmal habe ich auch nachts Dienst und muss raus, wenn ein Kunde den Notrufknopf drückt. Aber bis jetzt hatte ich immer Glück.« Verlegen schaue ich zu Boden. Aber nicht der Spritze wegen, sondern der Worte, die im Beisein der älteren Frau in deren Küche schallen. »So, Frieda. Das wäre erledigt. Morgen dann wieder um die gleiche Zeit.« Uta zieht sich die Einweghandschuhe aus und wirft sie in den Mülleimer. »Noch ein Häkchen und dann geht es weiter«, murmelt sie und blättert in ihrer Mappe. »Die jüngeren Kolleginnen hantieren immer mit ihren Smartphones rum. Was weiß ich, wie die das mit den Daten machen. Anfangs habe ich noch gedacht, die spielen Spiele, wenn sie bei den Kunden sind.«
Als wir im Begriff sind, die Wohnung zu verlassen, drehe ich mich noch mal zu Frieda und sehe eine traurige, ältere Frau, wie sie zusammengesackt auf einem Stuhl in ihrer Küche sitzt. Sie nickt zum Abschied, ich nicke auch und versuche zu lächeln.
Zurück im Auto teilt mir Uta mit, sie hätte sich schon gedacht, dass sie es heute mit einer recht emotionalen Person zu tun haben wird. »Typisch Schriftstellerin. Diese Arbeit wäre nichts für Sie. Das kann nicht jeder machen. Mir tut Frieda auch leid, aber das kann ich ihr doch nicht zeigen. Das geht nicht. Außerdem habe ich einfach keine Zeit für ein Kaffeekränzchen.« Härtet Pflege ab? Vielleicht. Muss man mindestens sein Mitgefühl überspielen können? Ganz bestimmt. »Und nicht jeder Kunde ist wie Frieda, die in ihrer Küche schon alles bereit gelegt hat, wenn ich komme. Sie weiß, dass ich immer unter Strom stehe. Da kommt sie mir entgegen. Aber gleich werden Sie eine Kundin erleben, ich sage Ihnen, da werden Sie wohl eher mit mir Mitleid haben.«
Wir fahren aus der Stadt raus und in ein Dorf, halten vor einem renovierungsbedürftigen Haus. Gerade als Uta die kleine Pforte zum Vorgarten öffnet, steht ein älterer Mann vor der Haustür. Wir seien spät dran, er hätte bereits gewartet. Im Haus liegt seine Frau im Wohnzimmer in einem Krankenbett. Als sie Uta sieht, beschimpft sie sie: »Blöde Sau. Fass mich bloß nicht an, du Drecksschwein!« Sofort beginnt Uta, die Frau auszuziehen. Sie liegt in ihrem Unrat und muss gesäubert werden. Es folgen weitere Beschimpfungen. Dem Mann sind die unflätigen Ausbrüche seiner Frau peinlich. Er schüttelt den Kopf, gibt an, draußen nach den Hühnern sehen zu müssen und verlässt das Haus. Etwa eine dreiviertel Stunde später fahren wir zurück in die Stadt.
Es ist still. Erst als wir vor der Wohnung der nächsten Kundin parken, sagt Uta: »Die alten Leutchen haben es auch wirklich nicht leicht. Besonders die nicht, die mit ihrer Situation nicht fertig werden und sich nicht anfassen lassen können. Verstehen Sie das?«
Bevor ich darauf antworten kann, hat Uta schon wieder ihre Mappe in der Hand und steigt aus dem Auto. »Für Martas Wohnung haben wir einen Schlüssel. Nachts ist immer eine Nachtwache bei ihr, und tagsüber bekommt sie zwei Mal von uns Besuch. Ihre Familie sorgt gut für sie, macht es ihr so bequem wie möglich. Ich bin mir sicher, sie wird bis zum Schluss in ihrer Wohnung bleiben können.« Die ältere Frau ist von ihrem Bett aus gut vernetzt. Fernbedienungen fürs Bett, Fenster, Fernseher, Spracherkennung fürs Telefon. Sie selbst sagt zu mir: »Junge Dinger wie Sie gucken immer, als sei ich schon längst verfault. Wenn Sie mit sich im Reinen wären, dann hätten Sie kein Problem mit Ihrer Scham.« Ich bin fassungslos und muss lachen.

 

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